Ist Heldentod sinnlos?
V. Kapitel aus dem Buch:
»Guten Abend, Herr Fernau«
von Joachim Fernau

Der fünfte Besucher – oder – Ist Heldentod sinnlos?

Die Nächte in den Städten sind nicht tief dunkel und nicht lautlos, denn beides lieben die Stadtmenschen nicht. Sie wollen immer das Schlußlicht des Tages sehen, der für sie das Leben ist. Wenn sie die Wahl hätten zwischen Vollmondnächten und ihren Straßenlaternen, würden sie die Laternen wählen. Sie sagen wohl einmal: Ah, sieh da, es ist Vollmond! Aber das ist auch alles; nötig ist er nicht.
Aber bei mir hier, an den Hügeln, ist die Nacht lautlos und tief schwarz. Nur wenn der Mond kommt, zieht ein heller Schleier über das Land. Dann träumt die Nacht.
Manchmal bin ich dann noch unterwegs. Ich steige langsam den Weg zum Waldrand empor; dort habe ich einen Stein, der auf mich wartet. Da sitze ich. Ich blicke voller Frieden über das bläulich schimmernde Tal, über die Felder, über das nahe Dorf und über die fernere Stadt; ein schönes, mildes Bild, das ich mir einprägen will, damit ich es einst mitnehmen kann.
Zu meinen Füßen liegt Fuchsi, mein Hund, mein Freund, der wohl auch bald Abschied nehmen muß.
Ich bin gewohnt, dort oben allein zu sein. Aber eines Nachts setzte sich jemand neben mich. Der Fremde, ehe er mich ansprach, beugte sich zu dem Hund hinunter und st streichelte ihn. Es wunderte mich, daß der Hund sich das gefallen ließ.
Dann sagte der Mann: »Grüß Gott, Herr Nachbar.«

Er stützte die Hände auf seine schwarze lederne Bundhose, in der blaue Strümpfe steckten, und sah mich mit dunklen Knopfaugen erwartungsvoll an.
»Ich bin der Sandwirt.«
»Der Sandwirt? Der Sandwirt?« überlegte ich.
»Ja. Wissen S', wer das ist?«
»Der Sandwirt? Dann müssen Sie der Andreas Hofer sein?«
Er nickte heftig.
»Hatten S' mich erkannt?«
»Nicht gleich.«
»Es gibt aber Bilder von mir.«
»Jawohl. Nicht nur Bilder, Hofer, es gibt auch ein Lied, fast ein Volkslied, über Sie.«
»Über mich? Ein Lied? Ja, da muß ich lachen! Warum denn das?«
»Weil Sie so im Herzen der Tiroler leben.«
»O mei! Wie hätte ich das denken können. Ein Lied! Da schau her. Wie geht das? Können Sie's singen?«
»Freilich. Ich habe es noch in der Schule gelernt:

Zu Mantua in Banden der treue Hofer war.
In Mantua zum Tode führt ihn der Feinde Schar.
Es blutete das Brüderherz, ganz Deutschland,
ach, in Schmach und Schmerz, mit ihm das Land Tirol.
«

Er hatte regungslos zugehört.
»Ach, lieber Herr«, sagte er dann, »das geht mir ans Herz. Aber über mich dichten, das hätt's nicht braucht. Hauptsache, man hat mich nicht vergessen.«
»Nein, Sandwirt, man hat Sie nicht vergessen. Auch ich hatte Sie schon noch erkannt, vor allem an der Tracht. Man geht im Passeiertal heute noch so.«
»Falsch!« Er freute sich, mich reingelegt zu haben. »Man tragt dort braune Joppen; ich aber hab immer eine grüne getragen.«
»Stimmt. Und warum die grüne?«
»Weiß ich auch nicht.«
»Die grüne ist bayrisch.«
»Pfui Deifel! Das hatten S' nicht sagen dürfen. Die haben mit den Franzosen gepackelt. Ich bin nicht gut bayrisch, ich bin gut österreichisch. Kennen Sie meinen Hof?«
»Ja, Sandwirt. Als ich einmal in Meran war, bin ich hinaufgestiegen.«
»Wenn ich wissen tät, wie er jetzt ausschaut! Nach wieviel Jahren?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wieviel Jahr sind wohl inzwischen vergangen? «
»Fast zweihundert.«
Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Da schau her!« sagte er.
»Haben Sie das nicht gewußt?«
»Nein. Woher soll ich das wissen?«
»Aber an Ihr Leben erinnern Sie sich doch genau?«
»Freilich. Ich hab's doch erlebt, mein Leben.«
»Jetzt sind Sie aber hier. Und dazwischen?«
»Dazwischen?« Er schaute mich ratlos an.
»Zweihundert Jahre!« drängte ich.
Er schüttelte den Kopf.

Ich sagte:
»Ich will Sie anders fragen: Haben Sie das Empfinden, als habe sich alles erst vor ganz kurzer Zeit, sozusagen gestern, zugetragen?«
»Nein, es ist schon nötig, daß ich nachdenke. Man muß sich erst erinnern, wenn man über Vergangenes spricht.«
»Ist alles vergangen für Sie?«
»Natürlich.«
»Aber Sie sitzen neben mir –«
»Freilich. Das sehen Sie doch.«
»– und daß Sie so neben mir sitzen, das ist doch nicht etwas Vergangenes!«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr. Es verwirrt mich.«
»Könnten Sie mich jetzt nach Hause begleiten?«
»Ich sollte nur hierher kommen.«
»Und dann?«
»Was dann?«
»Wenn wir miteinander gesprochen haben, wohin geben Sie dann?«
»Ich gehe doch nicht.«
»Sondern? «
»Ich weiß nicht.« Er dachte eine Weile nach und setzte dann hinzu: »Zurück.«
Vergeblich. Ich ließ es sein.

Der Hund war aufgestanden und legte ihm eine Pfote auf das Knie.
»Wie heißt er denn?«
»Fuchsi.«
»Das paßt auf ihn. Wie ein großer Fuchs. Ich habe zwei Hunde gehabt. Wie schaut denn der Sandhof jetzt aus?«
»Ich glaube wie damals.«
»Warum sagen Sie: ich glaube? Sie waren doch oben?«
»Aber ich kenne ihn nicht von früher.«
»Ach so. Ja. Früher. Immer sagen Sie: früher. Alles, was Sie fragen und was ich weiß, ist >früher<. Sind Sie denn vielleicht auch von früher?«
Ich hätte gern ja gesagt, aber er hätte es nicht verstanden.
»Nein«, antwortete ich. »Ich bin jetzt.«
»Wie geht das bloß zusammen? Mir dreht es sich schon im Kopf. Manchmal denke ich: Ich hab's. Aber dann habe ich's doch nicht. Ich komm' nicht dahinter. Ich hab' nicht studiert, ich bin der Sandwirt, weiter nichts. Wie schaut denn mein Hof aus? Jetzt?« Er lachte herzlich.
»Warum lachen Sie?«
»Weil ich >jetzt< gesagt habe! Da bin ich wohl meinem Leben entwischt, was?!«

Der Gedanke machte ihm Spaß. Aber ich wollte nicht darauf eingehen.
»Fein sieht der Sandhof aus. Stattlich. Leuchtend weiß. Mit Ihrem Namen darauf.«
»Das freut mich schon recht. Früher –« er lächelte bei dem Wort, »– war er ziemlich abgewirtschaftet. Ich bin schon als Bub eine Waise gewesen, und bald hab ich Schulden machen müssen. Dann hab ich geheiratet, weil ich allein nimmer ausgekommen bin. Als die Kinder kamen, hat der Hof uns nicht mehr getragen. Es war ein recht armseliges Leben. Vielleicht hätte es zu mehr gereicht, wenn wir geizig gewesen wären; aber wir haben gern geholfen. Sieben Kinder, sechs Mädel und einen Buben hab' ich gehabt. Das tät ich gern wissen, was aus denen geworden ist. Wieviel Jahre haben Sie gesagt, daß es her ist?«
»Fast zweihundert.«
»O mei! Das ist viel Zeit. Wer sitzt denn jetzt auf dem Sandhof?«
»Der letzte war ein Leopold von Hofer.«
»Ein Fremder?«
»Nein, wieso?«
»Weil Sie >von< Hofer sagen.«
»Ihr Urenkel.«
»Wieso denn das?« Er schaute mich verwundert an. Im Mondlicht konnte ich jeden Zug seines rundlichen Gesichts erkennen. Er trug zwar einen starken, dunklen Vollbart, aber kriegerischer sah er dadurch nicht aus. Seine braunen Knopfaugen blickten treuherzig, und sein Mund, so ganz und gar nicht hart oder zusammengepreßt, war immer noch bubenhaft; das Schönste aber war der unschuldige, kindliche Ausdruck seines Gesichts.

Ich faßte seine Hände.
»Sandwirt«, sagte ich, »jetzt will ich Ihn etwas erzählen, was Sie eigentlich wissen müßten, aber durch einen dummen Zufall nie erfahren haben.«
Er runzelte die Stirn.
»Was Schlechtes?«
»Was Gutes. Was Hübsches. Was Ihnen Freude machen wird.«
Jetzt lächelte er. »Ich weiß! Tirol ist wieder österreichisch! Die Saubayem sind raus?«

Da saß er nun und wußte nicht, wie brutal die Geschichte über sein Opferleben und seinen Opfertod hinweggeschritten war. Er rührte mich, und um ihm nicht weh zu tun, sagte ich vorsichtig:
»Ja, Innsbruck ist wieder österreichisch, aber das habe ich nicht gemeint.«
»Sagen Sie's!«
»Noch zu Ihren Lebzeiten hat der Kaiser Sie in den Adelsstand erhoben.«
Er blieb mucksmäuschenstill, er schien sogar den Atem angehalten zu haben. Er sah mich an, und dann rollten zwei Tränen über seine Backen.
»Schauen S' ruhig hin«, sagte er schließlich mit fester Stimme, »ich hab' nie im Leben vor Schmerz geweint, immer nur vor Freud.«
Er entzog mir die Hände, aber nicht, um sich über die Augen zu wischen, sondern um sie zu falten.
»Mein guter Kaiser Franz«, flüsterte er. »Mein guter Herr! Das hat es nicht braucht. Ich hab Tirol doch nicht allein befreit! Die anderen waren doch auch alle dabei. Und so viele sind gefallen. Ich war's doch nicht allein. Ach, mein guter Kaiser!«
»Sie waren es nicht allein, Sandwirt, aber Sie waren es, der das Tiroler Volk gegen Napoleon erst hat aufstehen lassen.«
»Auch nicht allein. Da war schon ganz früh der Brunecker Wirt Huber, der Kaffeesieder Nessing aus Bozen, dann der Kronenwirt Straub aus Hall, der Speckbacher, der Angerer, der junge Ennemoser, der Kajetan Sweth, der Mahrwirt – wir waren alle gleich.«
»Nein, Sandwirt, Sie waren der erste, der die Fahne in die Hand genommen hat.«
»Schon, ja, das stimmt. Anno 1796, da war ich neunundzwanzig Jahre alt, bin ich als Freiwilliger in die Meraner Schützenkompanie eingetreten, als die Franzosen aus Italien nach Tirol einmarschieren wollten. Im Jahr darauf habe ich in der Schlacht bei Spinges als Hauptmann eine Kompanie von 129 Passeiern geführt. Das alles war noch keine große G'schicht. Wir haben gedacht, wir hatten's damit schon geschafft. Aber der Napoleon hat bloß noch kein Auge für uns gehabt. Richtig los ging der Kampf erst, als der Franzose auch bei uns Lunte gerochen hat.«

»Dann kam Ihre Stunde. Waren Sie eigentlich kriegerisch, Sandwirt?«
»O mei! Überhaupt nicht. Trotz dem Säbel.«
»Was für ein Säbel?«
»Das wissen Sie nicht, gell? Bei meiner Geburt, das war um Mitternacht gerade zur gleichen Stunde, wo wir hier sitzen, da hat über der Platter-Spitze ein Komet mit einem Schweif wie ein Säbel gestanden.«
»Sagen die Leute?«
»Sagt die Hebamme«, lachte er.
»Ein Säbel?«
»Hat sie gesagt.«
»Glauben Sie an die Sterne?«
»Ich glaube an den Allmächtigen. Wenn er mich zu etwas bestimmt hat, braucht er's den Leuten nicht durch einen Säbel sagen. Was meinen Sie?«
»Das glaube ich auch.«
»Aber jetzt verrate ich Ihnen was, was Sie nicht weitersagen dürfen: In der Jugend hab ich gerauft, um Geld! In den Wirtschaften! Stellen Sie sich das vor! Vor allen Leuten. Gewettet, und dann kassiert! Nicht grad fein, nicht?«
»Haben Sie denn immer gewonnen?«
»Ein einziges Mal nicht. Der Bursch war fast zwei Meter hoch und zweimal so schwer wie ich.«
»Sie sind nicht groß.«
»Schon, aber ich habe Muskeln wie Eisen gehabt.«

»Sandwirt, Sie sagen, Sie seien ein friedlicher Mensch gewesen. Und doch haben Sie einen langen Krieg begonnen.«
Er seufzte und schwieg eine Weile.
»Und«, fügte ich hinzu, »mit vielen, vielen Toten.«
Er antwortete immer noch nicht. Schließlich sagte er, und ich merkte, wie er nach Worten suchte:
»Hätten wir uns fügen sollen?«
»Das Leben wäre doch weitergegangen, nicht?«
Er nickte, und ich fuhr fort:
»Was hätte sich denn geändert? Die Äcker hätten weiter Kartoffeln und Rüben getragen, die Felder weiter Roggen und Weizen, die Bäume weiter Obst und die Reben weiter Trauben.«
Er nickte auch dazu.
»Sandwirt, die Toten würden, wenn sie könnten, vielleicht sagen: lieber französisch als tot.
»Ach, nein, lieber Herr. Gerade die Toten würden das nicht sagen, nur die, die daheim geblieben sind, die haben es wohl gesagt.«
»Und? Haben sie unrecht gehabt? Was hätte sich, wenn ihr euch gefügt hättet, geändert?«

»Ja, wissen Sie denn nicht, was Fremdherrschaft ist? Es fängt mit kleinen Gemeinheiten an und wissen S', wie es endet? Daß man für die fremden Herren auf fremden Schlachtfeldern verbluten muß. Da sterb' ich doch lieber für meine Heimat! Es hatte ja schon begonnen, die kurze Zeit, ehe wir uns erhoben haben. Die neuen Herren sind gekommen wie die Eroberer. In allen Amtsstuben Bayern und Franzosen, alle Befehle von irgendwoher. Kaum waren die fremden Herren da, haben sie uns die Mitternachtsmette in der Christnacht verboten. . .«
»Warum?«
»Ja, warum? Ahnen Sie es nicht? Früher sind wir alle in der Mitternacht mit Fackeln von nah und weit zusammengekommen, das ganze Land. Ahnen Sie es immer noch nicht? Wir sollten uns nicht mehr zusammenfinden; wir sollten verstreut bleiben, verstehen Sie? Wir sollten uns nicht mehr verständigen. Die Bittprozessionen – verboten. Das Wetterläuten – verboten. Der alte Pfarrer von St. Martin aus dem Amt vertrieben; der Bischof von Chur schließlich verjagt.«

»Nun ja. Aber Sandwirt, Sie müssen zugeben, daß das alles zu verschmerzen wäre. Wunden heilen. Die Zeit heilt. Lieber Frieden, lieber leben als Krieg. Stimmt das nicht?«
»Und die Frauen, die die Franzosen geschändet haben – heilt das auch?«
»Sie werden sich über die Antwort wundern, Sandwirt: Ja, das heilt auch.«
Er sah mich starr an. »Pfui Teifi. Pfui Teifi.«
»Sandwirt«, sagte ich, »ich bin ein altmodischer Kerl. Das war nicht meine Meinung! Meine Meinung zählt nicht. Ich rede und frage nur so, wie die Menschen heute denken.«
Er war erleichtert.
»Ach so. Dann entschuldigen Sie nur. Ich hab schon gar keine Lust mehr gehabt, mit Ihnen zu reden. Denken die Menschen bei Ihnen jetzt so?«
»Jedenfalls schreien die, die so denken, am lautesten. Und ist der Wille zum Leben nicht der menschlichste von allen Trieben?«
»Lieber ehrlos, meinen Sie, aber leben?«
»Die Ehre, heißt es heute, nützt nichts mehr, wenn man tot ist.«
»Ach so! Ist die Ehre ein Dreck?«
»Wenn man von vornherein sieht, daß ein Kampf aussichtslos ist und sich ergibt, hat man dann die Ehre verloren? Denken Sie doch an das Naturgesetz bei den Tieren: Ein Hund ergibt sich einem anderen, überlegenen, er legt sich hin und bietet dem Sieger die Kehle zum Biß. Der Todesbiß bleibt aus; der Sieger nimmt die Demutsgeste an. War der unterlegene Hund feige?«
»An dem Beispiel, Herr Nachbar, ist alles schief und krumm. Die beiden Hunde haben vorher gekämpft! Gekämpft, hören Sie! Bis aufs Blut.«
»Aber dann, Sandwirt, hat der Schwächere gewußt, wann er sich ergeben und seine Kehle hinhalten muß.«
»Er wußte: Der siegreiche Hund beißt dann nicht zu. Lieber Herr, der siegreiche Mensch beißt zu!«

Er sah mich fragend an. Ach, was sollte ich ihm antworten! Nach einer Weile sagte er:
»Können Sie mir erklären, was mir bisher noch keiner hat sagen können: Was wollte Napoleon in Tirol? Was wollte er in Österreich? Warum wollte er die ganze Welt erobern?«
»Hofer, über Menschen wie Napoleon zerbrechen sich die Gelehrten immer noch die Köpfe. Aber im Grunde wird nur eine Erklärung richtig sein: weil er zuviel Glück im Leben gehabt hat. Weil er vom Schicksal vorher noch nie ins Gesicht geschlagen worden ist.«
»Das versteh' ich nicht. Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß ein Mensch durch zu viel Glück einen schlechten Charakter bekommt.«
»Das ist wahr.«
»Napoleon ist zum Spieler geworden. Immer höher der Einsatz, immer größer der Gewinn. Immer weiter spielen – wenn die anderen Haus und Hof verlieren, wen kümmert das?«
Hofer starrte vor sich hin.
»Und so einem Menschen muß man seine Kehle hinhalten und gleich Haus und Hof verschreiben, meinen Sie?«
»Nein.«
»Na, da wird mir gleich wieder wohler.«
»Aber Ihr Kaiser, Sandwirt, hat im Frieden von Preßburg sein Tirol sang- und klanglos dem Bayern verschrieben.«
»Ach, was reden Sie da! Napoleon hat ihn gezwungen, und mein Kaiser hat unterschrieben mit dem Schwurfinger nach unten! So ist das gewesen. Nie, nie, nie hat er uns verlassen. Das hat er mir extra sagen lassen.«
»Sie sind, glaube ich, dazu nach Wien gerufen worden?«
»Heimlich, ja.«

»Etwas, Sandwirt, ist mir rätselhaft. Wie kam es, daß ganz Tirol auf einen einfachen Mann aus dem Passeiertal gehört hat? Sie waren doch nicht allen Leuten landauf, landab bekannt?«
»Wie ein bunter Hund!« Er lachte.
»Ja, wodurch denn?«
»Wenn man es recht bedenkt, Herr, durch einen Zufall. Wenn der Sandhof uns ernährt hätte, hätt's gar keinen Andreas Hofer gegeben. Aber der Hof trug zu wenig, und drum habe ich mir mit Schulden Saumpferde angeschafft und bin mit Wein durchs Land gezogen, fast das ganze Jahr über, auf jede Einöde, auf jeden Hof, in jedes Dorf, in jede Stadt. Und wenn wir da beieinander saßen, haben wir geredet, über alles mögliche, hauptsächlich dann über den Napoleon und seine Räuber. Denn Räuber sind es gewesen. Da gab's nur eine Meinung: Tirol bekommt er nicht! Ach, lieber Herr, das Wichtigste wissen Sie ja nicht.«
»Nämlich?«
Er drehte sich mir zu und versuchte, mit seinen Kinderaugen wild zu blicken:
»Seit dem Kaiser Maximilian haben wir Tiroler das Recht verbrieft gehabt, zum Militärdienst nur zur Verteidigung von Tirol und nur in den Grenzen von Tirol gezogen zu werden. Und dann geschah es: Die Bayern haben uns ausheben wollen als bayrische Soldaten und für den Dienst für Napoleon! Wissen S', was ich da sage? Man hat uns zur Schlachtbank für Frankreich führen wollen! Sie brachen unser altes, heiliges Recht. Was hätten Sie getan?«
»Ich weiß nicht, Hofer. Man hätte nach Wien fliehen können.«
»Dann wären Sie ja ein Schuft gewesen!«
»Ja, Sie haben recht. Sie denken an die wehrlos Zurückgebliebenen.«
»Eben. Gell – Sie wären geblieben?«
»Ja.«
»Immer jagen Sie mir so einen Schrecken ein! Sie wären auch gar nicht rausgekommen; wir waren eingeschlossen.«
»Und was geschah?«
»Unsere Burschen flohen in die Berge, und wir griffen zu den Waffen, zu Gewehren, Mistgabeln, Sensen und Dreschflegeln.«
»Gegen reguläres Militär? Gegen Kanonen? Wie konnte der Kaiser dieses Abenteuer unterstützen?«
»Hätten Sie es nicht unterstützt?«
»Nein.«
»Ist das diesmal Ihre eigene Meinung?«
»Ja. Was die Tiroler fühlten, in allen Ehren. Aber ein Politiker muß Realist sein. Der Kaiser hätte wissen müssen, daß der Aufstand phantastisch war.«
»So? Lieber Herr: Ich habe mit fünfhundert Mann den bayrischen Major Speicher aus Sterzing hinausgeworfen. Der Mann hatte die Kanonen, von denen Sie sprachen. Dann rückten von Süden die Franzosen heran. Zweitausendfünfhundert Soldaten. Wir haben sie mitsamt den Bayern auf den Wiltener Feldern in eine Falle gelockt; viertausendsechshundert Feinde mit zwei Generälen mußten sich ergeben. Innsbruck fiel. In ein paar Wochen war Tirol frei. Und das nennen Sie Phantastereien? Ja, haben Sie denn kein Feuer unterm Hintern?«
Er sah mich ganz erstaunt an ob der Vorstellung, jemand könnte bei dem Gedanken an sein Vaterland kein Feuer unter dem Hintern haben.

In der Ferne schlug eine Turmuhr Eins. Ein sanfter Windhauch brachte den Klang herüber. Ich fürchtete, unsere Begegnung könnte plötzlich zu Ende sein, und fragte:
»Haben wir noch Zeit? Wann müssen Sie zurück?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er, aber ohne ein Zeichen von Unruhe.
»Ich möchte«, sagte ich, »noch manches wissen.«
»Fragen Sie nur, Herr.«
»Sie waren leidenschaftlicher Patriot. Sie sind mit reinem Gewissen aufgebrochen – haben Sie auch später nie eine Schuld auf sich geladen? Bereuen Sie nichts?«
Er schwieg. Eine ganze Weile. Ich konnte im Mondlicht sein Gesicht sehr deutlich sehen. Mir schien, seine Mienen waren schmerzlich. Er beugte sich zu meinem Hund hinunter und streichelte ihn.
»Ich habe Sie etwas gefragt, Sandwirt. Sie müssen nicht antworten«, sagte ich.
»Ja, ich bereue etwas.«
Wieder eine lange Pause. »Ich bereue es ganz furchtbar.«
Er richtete sich auf, aber er vermied es, mich anzuschauen.
»Kennen Sie die Namen Daney und Sieberer?«
Er schielte mich von der Seite an. Ich schüttelte den Kopf.
»Es waren zwei Männer von mir. Kameraden. Im Krieg werden Verräter erschossen, nicht wahr? Wer seine Kameraden dem Feind verrät und damit in den Tod schickt, muß selbst sterben, nicht wahr? Er muß zum Tod verurteilt werden. Sagen Sie es mir!«
»Haben Sie es getan?«
»Ja.«
»Sie waren damals Oberkommandierender und handelten im Namen des Kaisers nach dem Kriegsrecht, das überall in der Welt gilt.«
»Ja.«
»Es ist keine Schuld, Sandwirt!«
»Die beiden waren keine Verräter ...«, flüsterte er.
Mir wurde flau um den Magen. Da lag die Welt im nächtlichen Frieden vor uns! Diese verfluchten Kriege, diese verfluchten Schicksale! Und es wird sich wiederholen in alle Ewigkeit.
»Sie glaubten aber an ihren Verrat? Sie mußten es glauben?«
Er nickte.
»Dann darf es Sie nicht bedrücken, Sandwirt. Nur wer niemals im Leben etwas getan hat, hat noch keinen Irrtum begangen. Wer zum Handeln gerufen ist, auf wessen Schultern eine Pflicht gelegt ist, den wird Gott um so leichter freisprechen. Liegt das so schwer auf Ihrem Herzen?«
»Es ist noch was Schlimmeres.«
Ich sah ihn an und wartete.
»Daney und Sieberer wurden mir vorgeführt, in Fesseln, meine Kameraden, und wollten ihre Unschuld beweisen. Ich ließ sie nicht sprechen, ich hörte sie nicht mit einem Wort an, ich war in großer Wut und stieß sie hinaus.«
»Herrgott!« rief ich verzweifelt.
»Ja, Herrgott«, wiederholte er stöhnend, »ich war nicht wert, ihr Richter zu sein. Mein Zorn war schuld. Ich hab' einen heiligen Zorn gehabt, und ein Richter darf keinen Zorn haben, auch keinen heiligen.«

Ich mußte ihm etwas sagen, aber ich wußte nicht was.
»Sandwirt!«
»Ja?«
»Es muß Richter geben; auch die Natur richtet. Inzwischen hat die Welt Richter gesehen, die nicht einmal im Zorn irrten, sondern von vornherein voll bösen Willens waren. Das Richteramt ist ein schweres Amt, und wenn es . . .«
Er unterbrach mich:
»Aber ich habe sie nicht angehört! Da gibt es keinen Trost!«
»Ja, es ist schlimm. Man kann den Tod nicht wiedergutmachen. Vielleicht dürfte es überhaupt keine Todesstrafe geben.«
»Nein!« riet er heftig. »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Wenn es keine Todessühne mehr gibt, macht man das Tor zum Bösen weit auf. Eben weil man andere Strafen wieder ändern kann, muß es eine geben, die endgültig ist, vor der die Lumpen und Verbrecher die einzige Angst haben: Leben um Leben. Den Tod für Mörder und. . .«
»– auch für Verräter?«

»Ach, fragen Sie mich doch nicht! Sie wissen ja noch nicht alles. Hören Sie, wie der leibhaftige Satan in der Hölle über mich gelacht haben wird: Die beiden Verurteilten blieben am Leben! Die Franzosen machten in diesen Tagen einen Vorstoß und befreiten sie dabei. Die Feinde waren ihnen gnädiger als ich.«
Um seine Bewegung zu verbergen, beugte er sich wieder zu meinem Hund hinunter.
»Ich hab dir gar nichts mitgebracht«, sagte er, »jetzt wär ein Stück Wurst oder ein Rippenknochen gerade das Richtige, gell? Ich war niemals bei einem Tier jähzornig, bei den Menschen oft. Ein Christ –«
»Sogar Jesus wurde von Jähzorn gepackt, als er die Wechsler im Tempel sah; er griff zur Rute und schlug sie.«
»Wahrhaftig! Ich hatte es vergessen. Ja, das hat er getan. Gut, daß Sie mir das sagen!«

»Wenn diese schlimme Sache mit Daney und Sieberer Sie so bedrückt, Sandwirt, dann – seien Sie mir nicht böse, daß ich es geradeheraus sage – dann müßten Ihnen die vielen Toten, die vielen sinnlos Gefallenen auch keine Ruhe lassen?«
Er fuhr auf:
»Sinnlos gefallen?« rief er erregt. »Was sagen Sie da! Ja, sehen Sie denn nicht den Unterschied? Herr, sterben müssen wir alle – für etwas sterben, das man liebt und verteidigt, glauben Sie mir, das ist der beste Tod.«
»Auch wenn er vergeblich ist?«
»Vorhin haben Sie gesagt: sinnlos. Vergeblich war er, aber das wußten wir nicht. Ich habe Tirol noch ein zweites Mal befreit, die Schlacht am Berg Isel habe ich gewonnen und bin wieder in Innsbruck eingezogen. Es war vergeblich, da haben Sie recht. Der Kaiser verlor auf dem großen Kriegsschauplatz gegen Napoleon und mußte Tirol hergeben. Da sind wir nach Hause gegangen.«
»Reden Sie nur weiter, Hofer! Die Geschichte ist noch nicht zu Ende, ich erspare es Ihnen nicht.«
»Noch nicht zu Ende, nein. Ich sage es nicht gern.«
»Dennoch!«
»Ja, dennoch muß es raus. Das Traurige war, was darnach kam. Ich riet, ohne auf den Kaiser zu hören, das Land zum dritten Male zum Kampf auf. Da bin ich gescheitert. Und gefangen worden. Alles, alles vergebens. Alles vergebens.«
»Sinnlos.«

Er sprang auf. Er stellte sich breitbeinig vor mich hin und schrie mich an:
»Nein!! Und wenn es hundertmal vergebens war, sinnlos war es nicht! Opfer, auch wenn sie vergebens sind, muß es geben in der Welt! Hören Sie? Ich schreie doch laut genug! Wenn es einmal so weit kommt, daß es keine Opfer mehr gibt, dann wird die Erde öde und leer werden! Ist denn das nichts wert, daß die Menschen so ein Beispiel wie unseres sehen? Gilt das nicht über Hunger und Not hinweg? Gilt das nicht, daß die Herzen höher schlagen? Wollt ihr denn einschlafen? So ein Beispiel – niemand kann es mehr auslöschen, es ist da, wenn es einmal da ist – gegen Kleinmut und gegen den elenden Bauch, der nur nach Fressen und Schlafen schreit. Es ist da, damit die Menschen, damit unsere Kinder merken, was man kann, wenn man aufsteht und mutig ist – ach, wenn ich doch besser reden könnte! War unsere Tat nicht wie ein Feuerrad, das man zur Sonnenwende auf den Bergen sieht? Vaterlandsliebe, Heimatliebe ist es, die da brennt!
Vergebens, sagen Sie? Da ist ein großes Geheimnis drin in dem Wort! Ein großes Geheimnis, das sage ich Ihnen! Gerade das, gerade vergebens muß man Opfer gebracht haben, um zu wissen, wer man ist! Verstehen Sie? Gerade vergebens muß das Opfer gewesen sein, um zu erfahren, ob man eine Heimat, ein Vaterland hat! Man bekommt keine Heimat geschenkt! Die Heimat muß man mit dem Herzen packen, und das Herz muß dazu offen sein, und am offensten ist ein wundes Herz – da muß die Heimat hinein! Das brennt! Das brennt höllisch! Ich weiß.
Aber wenn es das alles einmal nicht mehr geben sollte, dann wird ein Volk kein Vaterland mehr haben; es wird überall und nirgends sein können. Ach, wenn Sie mich doch verstanden hätten!«
»Ich habe Sie verstanden, Hofer.«

Er setzte sich wieder und bückte sich zu dem Hund, der ihm die Hand leckte.
»Würden Sie alles noch einmal tun?« fragte ich.
»Fast alles. Auch wenn ich wieder vor den Gewehren auf dem Sandhaufen stehen müßte.«
»Und würden Sie wieder das eine Wort rufen?«
»Ein Wort hab ich gerufen? Das weiß ich nicht mehr. Was habe ich gerufen?«
»Feuer!«
In diesem Augenblick war ich allein.

Es war spät. Der Mond war über den Wald gewandert. Ich und mein Hund, wir gingen heim.


10.12.2022


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